Hommage an Lydia

Keiner hätte Lydia jemals als hübsch oder besonders bezeichnet. Pummelig war sie durch ihre Leidenschaft zu Wurstsnacks und Schokolade. Ihre Haare waren immer leicht zerzaust und ungekämmt. Am liebsten trug sie plüschige, gemütliche Einheitsschlabberanzüge, die leicht mit Schlafanzügen zu verwechseln waren und von Pferden über Katzen bis Frösche sämtliche Tierarten abgebildet hatten. Vor allem war sie ein kleiner Frechdachs. Größten Spaß bereitete es ihr, ihre kleine Schwester zu hänseln und mit ihr um die Wette zu streiten. Ein erfolgreiches Unterfangen, trug sie doch aufgrund ihrer drei Jahre mehr Lebenserfahrung immer den Sieg in diesen Kämpfen davon. Mit ihren zehn Jahren war sie für ihr Alter sehr verspielt, den Weg zur Pubertät hatte sie noch nicht angetreten. Stattdessen verweilte sie  gerne stundenlang mit ihren Barbies und diversen anderen Puppen in ihrem Zimmer, spielte und ließ ihrer Fantasie freien Lauf. Selbst strahlender Sonnenschein vermochte sie nicht von ihren Puppen wegzulocken.

Um die Kinder an die frische Luft zu bringen waren die Eltern mit ihnen diesen Sommer zum Zelten an den Atlantik gefahren. Einmal in der Natur sein, einmal raus aus der Stadt, umgeben von vielen anderen Familien und naturbegeisterten Menschen. Sie hatten den Kindern verboten Puppen mitzunehmen. Lydia jedoch hatte es geschafft eine einzelne vor den Augen der Eltern zu verstecken. Fest hatte sie die Barbiepuppe die ganze Autofahrt über mit ihren kleinen, etwas wurstig anmutenden Fingern unter ihrem Pullover umschlungen und sich nicht getraut sie aus der Hand zu legen, aus Angst sie könnte entdeckt und ihr abgenommen werden. Am Ende der fünfzehnstündigen Fahrt waren Lydias Hand und die Puppe nass von der dauerhaften Berührung.

Den Strand betrat Lydia grundsätzlich nur mit Badehose: Bikiniartig anmutende Kinderoberteile zog sie nicht an, dazu war sie noch zu sehr Kind und die Scham erst im Anfangsstadium ihrer Entwicklung. Am Strand konnten sie und ihre Schwester Sara alle Streitereien und Eifersüchteleien vergessen. Sie tobten, bauten Strandburgen, spielten im Wasser mit den Wellen und blühten beide unter der Sonne und der frischen Luft zusehends auf. Zusammen mit den anderen Kindern gingen sie auf dem Campingplatz auf Entdeckungsreise und lernten ein Leben außerhalb der vier Wände ihres eignes Zimmers kennen. Wenn die Eltern Lydia so spielen sahen, konnten sie das erste Mal eine flüchtige Schönheit erahnen, ein Hauch von dem Mädchen, der Frau, die sie einmal sein würde. Nicht unbedingt grazil, aber aus der jetzigen Plumpheit würde ein kräftiges gesundes Mädchen werden, so schien es den Eltern. Sie sahen das Alles mit Freude und dachten insgeheim, dass sie diesen Urlaub noch häufiger wiederholen wollten und vor allem von nun an mehr Wert darauf legen würden, die Kinder an die frische Luft zu bringen. Sara machte ihnen weniger bedenken. Sie war von ihrer Natur aus eher einmal draußen aufzufinden als Lydia. Aber da sie die große Schwester mit ihren kindlichen Augen insgeheim sehr verehrte, fürchteten die Eltern hier eine negative Beeinflussung.

Dieser Urlaub schien die Kehrtwende zu sein, die Kinder waren endlich von den Puppen los und spielten mit ihresgleichen.

An einem sonnigen, leicht bewölkten Tag verspürte Lydia den großen Drang ihre mitgenommene Puppe hervorzuholen und noch einmal mit ihr zu spielen. Sie setzte sich etwas abseits von der bewachten Strandzone in das seichte Meerwasser und begann die Puppe zu baden. Sara hatte ihre Schwester beobachtet und war ihr gefolgt. Als sie diese im Wasser mit der Puppe spielen sah, vergaß auch sie alles um sich herum und versuchte Lydias Gunst und somit Zugriff auf die Puppe zu erwerben. Lydia wollte allein sein und als Sara merkte, dass alles werben nichts half, brach ein Streit zwischen den Geschwistern aus, der lange währte. Mal hielt Lydia, mal Sara die Puppe in der Hand. Viel wurde gekreischt und getreten. Dabei bekamen die beiden nichts mehr von der Umgebung mit. Sie spürten nicht den aufkommenden Wind, sahen nicht wie sich der Himmel verdüsterte,  nicht die Rettungsschwimmer die rote Fahne hissen und den Strand leerer werden.  Sie waren zu sehr mit der Puppe und sich selbst beschäftigt.

Es kam wie es schon so häufig zwischen den streitenden Geschwistern kam: Sara hielt den Kopf der Puppe, Lydia die Beine und mit einem unvorsichtigen Ruck ward die Puppe ihres Kopfes entrissen. Voller Entsetzen sah Sara was sie angerichtet hatte, sah den schockgefrorenen Gesichtsausdruck ihrer Schwester und noch ehe diese sich besinnen und zu den von ihr gefürchteten Kratzattacken übergehen konnte, warf Sara den Barbiekopf in die mittlerweile bedenklich hochragenden Wellen und lief eilends im einsetzenden Regen davon. Lydia, kurz unentschlossen wem sie zuerst nachjagen sollte, befand die Barbiepuppe als wichtiger und sprang ihr hinterher in die Fluten.

Wie überrascht war sie, als sich auf einmal den hohen Wellen ausgesetzt fand und weit und breit kein Barbiekopf zu sehen war. Kaum hatte sie diesen Gedanken gefasst, kam eine große Welle und riss sie mit sich. Lydia hatte keine Chance gegen diese Meereskraft.

Niemand sah ihren Kampf.

Der Strand war leer und die Eltern davon ausgegangen, dass die Kinder Zuflucht im Zelt gesucht hätten. Niemand konnte später sagen, was geschah und noch tagelang wurde auf dem Campingplatz nach ihr gesucht. Nur der Barbiekopf, der lag nach einigen Tagen wieder einige Meter entfernt vom Unglücksort am Strand. Vom Rest der Puppe und von Lydia wurde nie wieder etwas gesehen.