Ades Ehrgeiz

Ade war lange Zeit sehr strebsam. Ein Musterschüler, ein guter Freund, ein tadelloses Kind.

Ades Ehrgeiz kannte keine Grenzen, in jedem seiner Schritte, seinem ganzen Tun versuchte er sich zu verbessern und zu vervollkommnen.

Nie wagte er seinen Ehrgeiz anzuzweifeln, so viel hat er durch ihn ermöglicht bekommen. So viele Wege hatten sich ihm aufgetan, so viele Möglichkeiten. Egal wohin er ging, schon von weitem trat ihm Anerkennung entgegen. Er war immer der Beste, Fehler und Versagen kannte er nicht.

Eines Tages wurde Ade krank. Nicht schlimm, nur gerade so krank, dass er nicht mehr wie gewohnt seine hervorragenden Leistungen erbringen konnte. Er baute auf das Verständnis seiner Mitmenschen, versuchte in seiner Krankheit so gut es ging Leistung zu erbringen.

Aber die Anerkennung, sie schwand aus den Gesichtern. Stattdessen traf er nun auf Unverständnis und sogar Vorwürfe. Man warf ihm mangelnde Leistungsfähigkeit, nicht genügend Durchhaltevermögen und gelegentlich sogar Faulheit vor.

Und das war der Moment in dem Ades Ehrgeiz sich verabschiedete. Ade Ehrgeiz.

Emil (4)

In einiger Entfernung saß Emil auf einer Bank, die Hände auf dem Kopf gestützt. Er schien nachzudenken.

So saß er schon einige Zeit dort, sah wie sich die beiden Schwäne näherten, ungefähr auf seiner Höhe wendeten und wieder stromaufwärts schwammen. Er sah die Menschen an sich vorbei gehen, sah viele Gesichter, verschlossene und offene, hübsche und hässliche. Er hörte das Plätschern des Wassers, die Autos im Hintergrund. Er sah und hörte und doch bekam er nichts von alledem mit. Zu sehr war er mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.

Die Menschen, die an ihm vorüber gingen musterten ihn verstohlen. Hübsch sah er aus in seinem schwarzen Hemd, zwei Knöpfe zu weit aufgeknöpft, der lockeren Jeans und dem leicht verstrubbelten, etwas zu langen, dunklem Haar. Auch das merkte er nicht, aber das war ihm eigen. Selten bekam er mit, wenn sich jemand für ihn interessierte und ihm geltende Blicke nahm er erst gar nicht war. Er lebte in seiner eigenen Welt. Und in seiner Welt war es vollkommen richtig, sie nicht nach einem weiteren Treffen gefragt zu haben. Zu gern wäre er nur endlich einmal aus seiner Welt ausgebrochen.

Gedankenverloren saß er noch lange am Flussufer.

Idealisten braucht das Land!

Groß ist die Welt, groß ist sein Vorhaben.

Geboren um die Welt zu retten, träumt er davon in vielen kleinen Schritten Großes zu bewirken.

In der Schulzeit waren es der Boykott von Normen und die Neigung zu lieblichen Gedankenträumereien, die ihn den Hauch von Freiheit und Idealismus einatmen ließen.

Begierig ließt er die Literatur der großen Weltretter und Friedensforscher-  Vorbilder so vieler Heranwachsender: nichts entrinnt seinem ideellen Wissensdurst und bald weiß er mit vielen klugen Worten seine Ideale zu verkünden.

Wenn die Menschen seinen Worten nicht lauschen wollen, dann bedient er sich, ganz als Pazifist, seiner Gitarre und singt Lieder von Bob Dylan, John Lennon und all den andern Kindern der 60er Generation, in der Hoffnung seine Ideale würden auf diese Weise erhört.

Frieden studiert er, engagiert sich nebenbei in vielen Organisationen, ist bei jeder Diskussion unter den Lautesten dabei und bei jeder Friedensdemo zugegen. Er träumt davon eines Tages den Kindersoldaten in Afghanistan zu helfen.

Bis dahin jedoch singt er viel und tanzt, studiert auf den Kosten seiner Eltern und erträumt sein zukünftiges Leben. Für Arbeiten der Normalbevölkerung fehlt ihm die Zeit, zu ausgefüllt ist diese mit Wichtigerem, Größerem.

Dass schon der Klausurendruck ihm zu schaffen macht und sein Selbstvertrauen nur ein wackliges Gerüst, das übersieht er lieber. Dass er noch nie ein Dritte Welt Land betreten, noch nie einen Krieg erlebt und auch sonst wenig von der Welt gesehen hat, das ist auch eine Nebensache. Und dass er eigentlich schon genug mit seinen eigenen Problemen zu tun hat und sich lieber erst einmal diesen widmen sollte, dass traut sich ihm keiner zu sagen.

Er ist für Größeres bestimmt, dies alles darf kein Hindernis sein. Denn schließlich glaubt er an das Gute in den Menschen und dies Gute will er der Menschheit offenbaren.

Und so studiert der Idealist Frieden und wenn das mit der Weltrettung doch nicht wie erwartet gelingen sollte, dann wird er eben Kindergärtner, denn mit Kindern versteht er sich auch ganz gut.

Und die Kinder? Die freuen sich einen Gitarrespielenden, träumerischen Kindergärtner ihr Vorbild nennen zu dürfen. Er wird ihnen Geschichten erzählen von Frieden und von guten Menschen und vielleicht reicht ja schon dieser Schritt, um in einem kleinen Kind große Gedanken und Gefühle auszulösen.

Hommage an Lydia

Keiner hätte Lydia jemals als hübsch oder besonders bezeichnet. Pummelig war sie durch ihre Leidenschaft zu Wurstsnacks und Schokolade. Ihre Haare waren immer leicht zerzaust und ungekämmt. Am liebsten trug sie plüschige, gemütliche Einheitsschlabberanzüge, die leicht mit Schlafanzügen zu verwechseln waren und von Pferden über Katzen bis Frösche sämtliche Tierarten abgebildet hatten. Vor allem war sie ein kleiner Frechdachs. Größten Spaß bereitete es ihr, ihre kleine Schwester zu hänseln und mit ihr um die Wette zu streiten. Ein erfolgreiches Unterfangen, trug sie doch aufgrund ihrer drei Jahre mehr Lebenserfahrung immer den Sieg in diesen Kämpfen davon. Mit ihren zehn Jahren war sie für ihr Alter sehr verspielt, den Weg zur Pubertät hatte sie noch nicht angetreten. Stattdessen verweilte sie  gerne stundenlang mit ihren Barbies und diversen anderen Puppen in ihrem Zimmer, spielte und ließ ihrer Fantasie freien Lauf. Selbst strahlender Sonnenschein vermochte sie nicht von ihren Puppen wegzulocken.

Um die Kinder an die frische Luft zu bringen waren die Eltern mit ihnen diesen Sommer zum Zelten an den Atlantik gefahren. Einmal in der Natur sein, einmal raus aus der Stadt, umgeben von vielen anderen Familien und naturbegeisterten Menschen. Sie hatten den Kindern verboten Puppen mitzunehmen. Lydia jedoch hatte es geschafft eine einzelne vor den Augen der Eltern zu verstecken. Fest hatte sie die Barbiepuppe die ganze Autofahrt über mit ihren kleinen, etwas wurstig anmutenden Fingern unter ihrem Pullover umschlungen und sich nicht getraut sie aus der Hand zu legen, aus Angst sie könnte entdeckt und ihr abgenommen werden. Am Ende der fünfzehnstündigen Fahrt waren Lydias Hand und die Puppe nass von der dauerhaften Berührung.

Den Strand betrat Lydia grundsätzlich nur mit Badehose: Bikiniartig anmutende Kinderoberteile zog sie nicht an, dazu war sie noch zu sehr Kind und die Scham erst im Anfangsstadium ihrer Entwicklung. Am Strand konnten sie und ihre Schwester Sara alle Streitereien und Eifersüchteleien vergessen. Sie tobten, bauten Strandburgen, spielten im Wasser mit den Wellen und blühten beide unter der Sonne und der frischen Luft zusehends auf. Zusammen mit den anderen Kindern gingen sie auf dem Campingplatz auf Entdeckungsreise und lernten ein Leben außerhalb der vier Wände ihres eignes Zimmers kennen. Wenn die Eltern Lydia so spielen sahen, konnten sie das erste Mal eine flüchtige Schönheit erahnen, ein Hauch von dem Mädchen, der Frau, die sie einmal sein würde. Nicht unbedingt grazil, aber aus der jetzigen Plumpheit würde ein kräftiges gesundes Mädchen werden, so schien es den Eltern. Sie sahen das Alles mit Freude und dachten insgeheim, dass sie diesen Urlaub noch häufiger wiederholen wollten und vor allem von nun an mehr Wert darauf legen würden, die Kinder an die frische Luft zu bringen. Sara machte ihnen weniger bedenken. Sie war von ihrer Natur aus eher einmal draußen aufzufinden als Lydia. Aber da sie die große Schwester mit ihren kindlichen Augen insgeheim sehr verehrte, fürchteten die Eltern hier eine negative Beeinflussung.

Dieser Urlaub schien die Kehrtwende zu sein, die Kinder waren endlich von den Puppen los und spielten mit ihresgleichen.

An einem sonnigen, leicht bewölkten Tag verspürte Lydia den großen Drang ihre mitgenommene Puppe hervorzuholen und noch einmal mit ihr zu spielen. Sie setzte sich etwas abseits von der bewachten Strandzone in das seichte Meerwasser und begann die Puppe zu baden. Sara hatte ihre Schwester beobachtet und war ihr gefolgt. Als sie diese im Wasser mit der Puppe spielen sah, vergaß auch sie alles um sich herum und versuchte Lydias Gunst und somit Zugriff auf die Puppe zu erwerben. Lydia wollte allein sein und als Sara merkte, dass alles werben nichts half, brach ein Streit zwischen den Geschwistern aus, der lange währte. Mal hielt Lydia, mal Sara die Puppe in der Hand. Viel wurde gekreischt und getreten. Dabei bekamen die beiden nichts mehr von der Umgebung mit. Sie spürten nicht den aufkommenden Wind, sahen nicht wie sich der Himmel verdüsterte,  nicht die Rettungsschwimmer die rote Fahne hissen und den Strand leerer werden.  Sie waren zu sehr mit der Puppe und sich selbst beschäftigt.

Es kam wie es schon so häufig zwischen den streitenden Geschwistern kam: Sara hielt den Kopf der Puppe, Lydia die Beine und mit einem unvorsichtigen Ruck ward die Puppe ihres Kopfes entrissen. Voller Entsetzen sah Sara was sie angerichtet hatte, sah den schockgefrorenen Gesichtsausdruck ihrer Schwester und noch ehe diese sich besinnen und zu den von ihr gefürchteten Kratzattacken übergehen konnte, warf Sara den Barbiekopf in die mittlerweile bedenklich hochragenden Wellen und lief eilends im einsetzenden Regen davon. Lydia, kurz unentschlossen wem sie zuerst nachjagen sollte, befand die Barbiepuppe als wichtiger und sprang ihr hinterher in die Fluten.

Wie überrascht war sie, als sich auf einmal den hohen Wellen ausgesetzt fand und weit und breit kein Barbiekopf zu sehen war. Kaum hatte sie diesen Gedanken gefasst, kam eine große Welle und riss sie mit sich. Lydia hatte keine Chance gegen diese Meereskraft.

Niemand sah ihren Kampf.

Der Strand war leer und die Eltern davon ausgegangen, dass die Kinder Zuflucht im Zelt gesucht hätten. Niemand konnte später sagen, was geschah und noch tagelang wurde auf dem Campingplatz nach ihr gesucht. Nur der Barbiekopf, der lag nach einigen Tagen wieder einige Meter entfernt vom Unglücksort am Strand. Vom Rest der Puppe und von Lydia wurde nie wieder etwas gesehen.

Ruhige Einsamkeit vs. Mehrsamkeit

Fällt es noch leicht mit vertrauten Personen ruhige Stunden voller Muse zu gestalten und in Erholung zu verwandeln, so ist es gar eine Kunst das Gleiche alleine zu bewerkstelligen.

Nähert sich die Zeit da kein Mensch zugegen und jegliche verpflichtenden Tätigkeiten abgetan, so kommt in der Seele ein leichtes Unbehagen hoch.

Genießen könnte man diese Stunden, wüsste man die darauf folgende Zeit sei gefüllt.

Unerträglich scheinen diese Momente wenn ihrer Dauer kein Ende gesetzt zu sein scheint.

In einem tiefen Loch versunken, scheinen einfachste Tätigkeiten wie putzen oder kochen einer unsäglichen Anstrengung gleich und unvorstellbar ist es gar seiner Kreativität freien Lauf zu lassen. Anstatt Muse gewinnt der Müßiggang die Überhand, anstelle der Erholung der Verdruss.

Schön könnte der strahlende Sonnenschein mit einem Strandtag genossen werden, wäre da nicht das Bedürfnis nach Mehrsamkeit.

In dieser Mehrsamkeit könnte man seine Einsamkeit ganz ausleben- lesen, kreativ sein, entspannen- immer im Bewusstsein, dass die Einsamkeit bewusst gewählt ist und jederzeit durch einen Blick oder ein Wort durchbrochen werden kann.

Rauchschwaden

Mitten in der Innenstadt lag der malerische Innenhof der Siebener-WG versteckt. Es dämmerte schon, als ich an der Hand meines Freundes durch ein unauffälliges Einfahrtstor in den Hinterhof geführt wurde. Hier hatte sich schon der größte Teil des Freundeskreises der Geburtstagskinder versammelt, ein Lagerfeuer war entfacht worden und unter einem Regendach war ein reichliches Buffet angerichtet, zu dem jeder etwas beigesteuert hatte. Auffallend war der Mangel an fleischhaltigen Gerichten, der Vegetarier-Mode nachkommend hatte sich keiner getraut sich durch die Zubereitung eines Fleischgerichtes als Fleischesser zu entblößen.

Einige Gesichter kamen mir bekannt vor, mit anderen hatte ich schon auf anderen Feiern Worte gewechselt. Kaum einer, an den ich mich nicht in irgendeiner Weise erinnern konnte, war zugegen, an sich nichts Überraschendes in einer Stadt, die gerade einmal 30.000 Einwohner umfasst und deren ganzes Leben sich im Zentrum abspielt.

Freudig gespannt hier die Möglichkeit geboten zu bekommen, die Beziehungskonstellation all dieser bekannten Gesichter analysieren zu können, setzte ich mich an das Lagerfeuer. Ein süßlicher Geruch lag in der Luft, aus dem Haus tönte das Zusammenspiel vieler Instrumente- als Lied vermochte ich es noch nicht zu bezeichnen. Offenbar war ich die einzig Neue in der Gesellschaft, merkte ich doch wie mich immer wieder verstohlene Blicke musterten und viele von Neugier getrieben Gespräche mit mir begannen.

In den Genuss gekommen als noch weitgehend unbeteiligte Beobachterin in diesem Kreis sitzen zu dürfen, trank ich in Ruhe mein Bier, rauchte mir dargebotene Zigaretten und sonstige Erzeugnisse und beobachtete. Mein Freund, ganz aufgeregt mich in seinem Freundeskreis zu sehen, stellte mir hin und wieder einige Gesichter vor.

Berauscht von dieser neuen und doch schon lang bekannten Gesellschaft junger Leute, vertiefte ich mich immer mehr in Gespräche, wobei gerade wirre Gespräche mir besonders Vergnügen bereiteten. Gespräche in denen keiner sagen kann, wo die Fantasie anfängt und die Wahrheit aufhört und Realität und Träume miteinander verschmelzen können.

In dieser alternativ angehauchten Gesellschaft konnte man nur zu gut Ernst in Scherz und Scherz in Ernst verpacken, immer darauf vertrauend, dass die Gesichter sich schon die zu ihnen passende Aussagen aussuchen würden.

Der Rauch des Lagerfeuers vermengte sich allmählich mit dem Tabakrauch und einem süßlichen Duft. Die Luft war erfüllt von vielen Worten und Gesprächen.

Am Ende der Nacht war ich unter den Gesichtern ein bekanntes. Keiner wusste so recht zu sagen, was ich im Ernst gesagt und als Scherz gemeint hatte, aber Annerkennung lag in ihrem Blick. Und ich wusste sicher, dass ich noch so manche Fragen über mein wirres Gerede bekommen würde.

Schmunzelnd machten wir Beide uns auf den Heimweg.

Platz da (3)

Während der Mann noch zu begreifen versucht, was da gerade vor sich geht, nutzen die Beiden die Gelegenheit und versetzen dem Hut den letzten Stoß. Er fliegt einige Meter und landet vor dem schweigenden Publikum und ergießt ihnen seinen ganzen Inhalt zu Füßen.

Sich ihrem Erfolg gewiss erstarren die Beiden wieder und warten auf eine Reaktion des goldenen Mannes.

Endlich aus seiner Rolle fallend, starrt er Ihnen tief und wütend in die Augen. „Was soll das bitte schön bedeuten? Wollen sie mich veräppeln?“

Sachlich antworten sie, keine Miene verziehend: „Wenn sie bitte die Ehre hätten uns dem Weg zu räumen. Sie und ihr Bierkasten versperren seit geraumer Weile den Durchtritt und verzögern unser Fortkommen. Wir würden heute gerne noch das Ziel unseres Spazierganges erreichen. Unsereins kann nicht immerzu ausweichen.“  Darauf versinken die Beiden in tiefem Schweigen, erwidern hocherhobenen Hauptes den durchdringenden Blick des goldenen Mannes und warten. Sie warten, bis er sich beruhigt hat und dann den Weg räumt. Ungeachtet der weiteren Geschehnisse setzen sie ihren Spaziergang fort.

Taktik, ihre Taktik hatte sich wieder einmal bewährt.

Kopfschüttelnd starrt der goldene Mann den Beiden nach, den Bierkasten in der Hand haltend, den er auf ihr Verlangen beiseite nehmen musste. Das Publikum währenddessen bricht in ein schallendes Gelächter aus, Vereinzelte sammeln die verstreuten Münzen ein und bringen dem goldenen Mann den Hut zurück. Viele Münzen folgen diesem Gelächter und nun huscht auch ein Lächeln über das vergoldete Gesicht.

Platz da (2)

Einigen Minuten vergehen, in denen nichts passiert. Die Beiden und der goldene Mann stehen unbeweglich auf dem Gehweg. Der goldene Mann starrt nach vorne, die Beiden starren den goldenen Mann an. Sie ignorieren gekonnt jegliche Schmerzen. Ihr Rücken, ihre Hüften, ihre Knie sind ihnen in diesem Augenblick egal. Hier geht es um mehr, es geht um ihre Taktik, um Prinzipien, um das Alter. Diese Schmerzen nehmen sie gerne auf sich, wenn sie diesen Mann damit aus dem Wege zwingen können.

Einige Menschen bleiben stehen. Schauen sich verdutzt dieses Schauspiel an. Ein Kind, wirft zögernd eine Münze in den Hut. Da erwacht der goldene Mann aus seiner Starre und streichelt dem Kind dankend über den Kopf, zaubert einen Beutel mit goldgefülltem Innenleben aus seiner Jackentasche hervor und rieselt dem Kind ein wenig Goldstaub über das Haar. Lachend rennt das Kind wieder zur Mutter. Der goldene Mann ist währenddessen wieder erstarrt.

Die Beiden haben dies Geschehen gespannt verfolgt. Der Mann verlangt anscheinend Geld fürs Durchlassen. Diesen Gefallen wollen sie ihm nicht tun. Wo kommen wir denn hin, wenn sich jeder auf die Straße stellt und Geld verlangen würde? Zumal die Beiden auch kein Geld bei sich tragen. Für Spaziergänge verlassen sie für gewöhnlich das Haus nur mit Stock, Schlüssel und Hut.

Sich dem Stock besinnend, wissen sie was zu tun ist. Der Stock wird gezückt und langsam, ganz langsam nähert sich der Stock dem Hut. Im Augenwinkel beobachten sie den goldenen Mann. Dieser starrt nun nicht mehr stur nach vorne, sondern die Beiden von oben herab an. Noch lässt er sie gewähren. Das immer zahlreicher gewordene Brückenpublikum hält den Atem an.

Davon merken die Beiden jedoch nichts.

Der Stock berührt den Hut und ganz langsam, möglichst unauffällig beginnt der Stock den Hut fort zuschieben. Stück um Stück wird er verrückt. Wenn der goldene Mann Geld verlangt, dann wird er dem Geld schon hinterherzulaufen wissen. Und endlich den Weg freigeben.

Langsam bewegt sich der Hut fort von dem umgedrehten Bierkasten auf dem ein verdutzter, nun nicht mehr erstarrter goldener Mann steht.

Fehlsicht

Sehend und nicht begreifend fallen Fehler gleich gravierend aus.

Jemand scheint der Unordnung zu sehr gewogen, sie der Zeit in Mode und Verhalten nicht zu entsprechen?

Dort, siehst du diesen entschwebten Gang der Frau auf der anderen Straßenseite? Ist sie sich dieses Aufmerksamkeit erregenden Schritts nicht gewahr?

Wieso verkündet er seine Meinungen in allzu lauten Tönen?

Ist diese Zickigkeit der Freundin nicht eine übertriebene Reaktion?

Es scheint die Menschen wetteifern um den größten Mut zur Fehlerhaftigkeit.

Die anderen mögen’s ertragen.

Welche Fehler sehen sie in mir?

Und in dir?

Emil (3)

Vollkommen in Gedanken versunken starrte Annette noch eine ganze Weile in die sich kräuselnden Wellen des Flusses. Am anderen Ufer ließen sich zwei Schwäne stolzen Hauptes mit der Strömung treiben und musterten die Umgebung aufmerksam.

Stolz war Anette auch ein wenig. Nicht auf ihre Verdienste, gute Leistungen oder ein tolles Aussehen- in all diesem ordnete sie sich eher der Mittelmäßigkeit zu- nein, sie war stolz auf ihre innere Zufriedenheit. Stolz darauf, dass sie in der Lage war mit Schicksalsschlägen und mit ihrer eigenen Mittelmäßigkeit umzugehen und dies als gegeben hinzunehmen. Was nützt einem eine unvergleichliche Intelligenz, ein atemberaubendes Aussehen oder tiefgründiges Wissen, wenn lauter Selbstzweifel einem am Genuss dieser Vorzüge hindern?

Diese innere Ausgeglichenheit und Charakterstärke, die sie zur Selbstdefinition benutzte, bestärkten sich unter anderem darin, dass dies in ihrem Freundeskreis keineswegs als gegeben angesehen werden konnte. Als vergleichsweise extrovertiertre Person hatte sie eine beachtliche Anzahl an Freunden und guten Bekannten und von den wenigsten hätte sie behaupten können, dass diese mit dem eigenen Lebensverlauf einverstanden waren. Gerade erst anfangs der dreißiger zeichneten sich in vielen Gesichtern schon Sorgenfalten und in den Augen der Ausdruck enttäuschter Hoffnungen und Träume ab. Manch einem konnte sie dies dem verwöhnten Elternhaus und dem Unvermögen auf eigenen Beinen zu stehen zuordnen. Bei anderen waren es wohl die Härte der Schicksalsschläge oder ein allzu sensibles oder impulsives Wesen, die diese Veränderungen verursachten. Schon lange fragte sie sich, ob sie solche verlorenen Seelen anzog, oder ob sie tatsächlich ein realistisches Bild der Gesellschaft darstellten.

Nicht verleugnen konnte sie, dass tiefgründige, leicht melancholische Augen sie wie magisch anzogen, versprachen sie doch ein zu erforschendes Geheimnis oder zumindest einen scharfsinnigen Verstand. Denn wenn sich zwar nicht einer ungeheuren Intelligenz rühmte, so war doch ihre eigene Scharfsinnigkeit ein weiterer Grund ihres Stolzes. Über die meisten Menschen und Beziehungskonstellationen konnte sie rasch ohne großartige Unterhaltungen und Gespräche Auskünfte geben, allein dadurch bedingt, dass sie nebenbei Beobachtungen anstellte. Manchertags kam sie mit dieser Scharfsinnigkeit einem Scharfrichter nahe, verleitete diese sie zu allzu schnellen Urteilen. Dann bedurfte es einiger Feinsinnigkeit und eines guten Durchhaltevermögens sie vom Gegenteil zu überzeugen. Dies zeichnete sich auch in ihren vergangenen Beziehungen ab. Wahrscheinlich wäre Beziehungsversuche der treffendere Ausdruck. Sie wollte erobert werden, aber nicht auf die belanglose Art, wie es ein jeder in einem Club vermochte, solange der Blutalkoholgehalt nur entsprechend hoch war, sondern auf eine besondere Art. Wie genau das aussehen sollte wusste sie nicht,  doch durch ihr langes Singledasein konnte sie schon genügend gescheiterte Eroberungsversuche aufzählen.

Allzu schnell sah sie ihre Welt in Gefahr und suchte diese vor Avancen zu verteidigen. Kompromisse waren ihr meist  zuwider, zu sehr hatte sie sich an ihr komfortables ich-bestimmtes Leben gewöhnt. Schaffte es doch einmal einer, in ihr einen Schmetterlingsschwarm zu entfachen, setzte alsbald der Verstand ein und eine kleine Unsicherheit oder eine alltagsbedingte Angewohnheit wurden schnell zu einem unerträglichen Fehler. Ab und an ließ sie es auf eine gefühlsarme, kurze Affäre ankommen. Einmal hatte sie sogar eine längere Beziehung, doch auch diese scheiterte an ihrem eigensinnigen Freiheitsbedürfnis und einem Kinde gleich strampelte sie sich wieder aus dieser Beziehung frei.

Es gab Zeiten, da fand sie den Gedanken an ein gemeinsames Altwerden mit einer geliebten Person ein schönes Lebensziel. Sobald sie sich ihres eigenes Lebensstils bewusst wurde, waren ihr die Kompromisse und Abstriche dafür allerdings zu gravierend, als dass sie es ernsthaft hätte versuchen wollen sich diesem Lebensziel zu widmen. Und solange es immer wieder kurze Affären gab um ihre Bedürfnisse zu stellen  und ihr Freundeskreis ihr das Gefühl gab eine art Ersatzfamilie zu haben, rückten solche Gedanken immer wieder in weite Ferne. Es gibt Beziehungsmenschen und Einzelgänger und sie war stolz drauf nicht auf eine einzelne Person angewiesen sein zu müssen.

An die vergangen Stunden zurückdenkend breitete sich ein Lächeln in ihrem Gesicht aus. Ganz nach ihrem Geschmack war dieser angrauende Morgen gewesen. Einfach einander genießend, in stillschweigendem Einverständnis ohne falsche Versprechungen zu machen, waren sie beisammen gesessen. Hätte er sie nach der Telefonnummer oder nach einem weiteren Treffen gefragt, wäre sie wohl zurückgeschreckt, so jedoch konnte sie diese Stunden fest in ihrer Erinnerung verankern als eine der schöneren Zusammentreffen ihres Lebens. Ohne weitere Verpflichtungen.

Als sie die beiden Schwäne, nun gegen die Strömung ankämpfend, wieder an sich vorbeischwimmen sah, zog sie sich aus ihren Gedanken zurück und brach zum Heimweg auf.