Abseits (1)

Einsam steht ein Mann auf einer schlecht beleuchteten Brücke in einer Menge aus eilig vorbeilaufenden Menschen. Etwas verloren blickt er um sich. Er scheint nicht recht zu wissen wohin er gehen soll. Vielleicht weiß er auch schon längst nicht mehr woher er kam. Verwirrt ist er. Seit Monaten ist dies eine Art Dauerzustand. Und heute Nacht hat er seine letzte Orientierung verloren. Er kam in dies Land und hoffte auf eine bessere Zukunft. Er tat alles, um seinen Traum zu erreichen. Im Vergleich zu vielen Anderen scheiterte er nicht bereits am Asylantrag, sondern durfte bleiben. Durfte sich weiter bilden. Er lernte mühsam die Landessprache. Lernte viele Wörter und Sätze, um ordnungsgemäß kommunizieren zu können. Erpicht darauf sein Wissen anzuwenden, stürzte er sich in die Massen. Und scheiterte. Er scheiterte nicht an der Sprache. Er scheiterte an seinem Aussehen. An dem Verschlossenheit der Menschen. An ihrer Angst vor etwas Unbekannten, Neuem. Kaum einmal Jemand, der sich mit ihm auf ein Gespräch einließ, und selbst bei diesen Wenigen schwang meistens das Misstrauen in jedem Wort. Einer unter Vielen ist er, einer allein in der Einsamkeit.

Vollkommen orientierungslos greift er in seine Hosentasche und kramt 10 Euro hervor. 10 Euro für den Rest der Nacht. Damit könnte er sich betrinken, könnte die Einsamkeit runterspülen und darauf vertrauen, dass der nächste Tag ihn aus der Einsamkeit heraus führt. Nur  der nächste Tag scheint im Moment unerreichbar. Jeder weitere Moment allein fühlt sich an wie ein weiterer Messerstich mitten ins Herz. Kann man sich mit Geld nicht alles kaufen? Ob 10 Euro ausreichen, um ihm in paar Minuten Hoffnung zu schenken?

Langsam nähert er sich einem Passanten auf der Brücke, hält die 10 Euro sichtbar in der ausgestreckten Hand, wie einen Köder mit dem es Menschen zu fangen gilt. Der Passant weicht ihm aus, will sich nicht aufhalten lassen. „Ich habe 10 Euro, wollen sie mit mir reden?“, ruft er ihm leise hinterher. „Ich will nur reden, sie brauchen keine Angst zu haben. 10 Minuten, 10 Euro. Nur ganz kurz. Sehen sie hier, meine Frau und mein Sohn? Die mussten zurück in die Heimat. Und ich bin hier, aber niemand redet mit mir. 10 Minuten? Wir können uns da drüben auf eine Bank setzten und ein bisschen reden? Ein paar Minuten schaden ihnen nicht. Ich kann von meiner Heimat erzählen und sie erzählen von ihrem Leben?“ Er hält das Geld fest zusammengeknüllt in der Hand und redet. Die Worte verhallen ungehört in der Luft. Denn der Passant ist schon längst weitergegangen, hat seinem leisen Hilferuf keine Beachtung geschenkt. Viele Menschen überqueren die Brücke und keiner achtet auf den einsamen Menschen in ihrer Mitte.